Um in der Lage zu sein, Krisen gut bewältigen zu können, streben viele Unternehmen eine Erhöhung ihrer organisationalen Resilienz an. Doch was ist das eigentlich ganz genau, und wie kann Resilienz in Organisationen beeinflusst werden? In einem früheren Blogbeitrag haben wir bereits im Überblick dargestellt, wie unser NEOresilienz®–Modell organisationale Resilienz begreift. Heute möchte ich mich genauer mit einer zentralen Idee unseres Modells befassen: der Vorstellung von Resilienz als dynamischer Balance zwischen Polaritäten, die in Change-Prozessen ins Schwanken geraten kann.
Change gestalten mit NEOresilienz®
Warum die Forderung „wir müssen agiler werden“ oft nicht ausreicht – und manchmal sogar schaden kann.
Eins vorweg: der Wunsch und das Ziel, agiler zu werden, ist in den allermeisten Unternehmen nicht nur verständlich, sondern auch richtig. Wer Krisen gut meistern will, muss beweglich sein, und die Erkenntnis, dass die deutsche Wirtschaft in dieser Hinsicht einen Nachholbedarf hat, ist inzwischen zum Allgemeingut geworden. Zugleich wird immer stärker offenbar, dass der Change hin zu einer agilen Organisation weder schnell noch leicht zu haben ist. Wer glaubt, dass die Einführung einiger digitaler Tools (z.B. Teams oder Slack) und die Verkürzung von Planungszeiträumen (z.B. durch OKRs statt jährlichen Zielvereinbarungen) ausreicht, um das eigene Unternehmen in Schwung zu bringen, wird schnell eines Besseren belehrt. Und stellt schlimmstenfalls fest, dass die Krisenfestigkeit nicht zu, sondern abgenommen hat. Z.B. weil MS-Teams mit der herrschenden E-Mail-Kultur kollidiert und Informationen nun schlechter als vorher ge– und verteilt werden. Oder weil OKRs nicht funktionieren, wenn die Führungsebene Kontrollverlust befürchtet und neben dem OKR-Prozess weiterhin einen klassischen MBO-Prozess mitlaufen lässt, was Bürokratismus, Ressourcenverschwendung und Frustration auf allen Seiten provoziert.
Leider gilt aber auch: man kann nicht alles gleichzeitig verändern. Es ist selten ratsam, eine ganze Projektstaffel in Gang zu setzen, um das neue Zeitalter auf allen Ebenen, in allen Bereichen und für alle Tätigkeiten gleichzeitig auszurufen. Das führt zu Überforderung, Verunsicherung und oft auch zu bedeutenden Verlusten in der Produktivität. Auch dies schwächt die organisationale Resilienz.
Im Change die Balance bewahren
Die Erkenntnis, dass ein Zuviel von etwas genauso schlecht sein kann, wie ein Zuwenig ist nun allerdings nicht gerade neu. Viel spannender ist daher aus unserer Sicht die folgende Frage: Wenn ich Veränderung will, ohne meine Organisation zu überfordern, wenn ich also, wie das typischerweise der Fall ist, nur begrenzte Ressourcen für Veränderung zur Verfügung habe – was kann mir Orientierung bei der Priorisierung bieten?
Wir glauben, dass das NEOresilienz®-Modell diese Orientierungshilfe leisten kann.
Werfen wir einen Blick auf das Modell: Es postuliert insgesamt 12 betriebliche Qualitäten, die einen Einfluss auf organisationale Resilienz haben. Sie sind in Quadranten angeordnet, die vier grundlegende Kompetenzen von Organisationen beschreiben. Das Ganze wird als Oberseite einer Halbkugel dargestellt, um zu verdeutlichen, dass es ein System darstellt, welches bei einseitiger Belastung zum Kippen gebracht werden kann. Und einseitige Belastung kann entstehen, weil einer Seite zu viel oder aber der anderen zu wenig Gewicht beigemessen wird. Mit anderen Worten: Die Kompetenzen und Qualitäten sind bipolar konzipiert, d.h. gegenüberliegende Einheiten beeinflussen sich.
Bedeutung für die Gestaltung des Change in Organisationen
Zu besseren Verständlichkeit ein Beispiel: „Antizipieren“ (1) bezeichnet die Kompetenz einer Organisation, zukünftige Herausforderungen rechtzeitig zu erkennen und auf sie reagieren zu können. Qualitäten, die dazu in der Organisation vorhanden sein müssen, sind
- Flexibilität (in den Prozessen, den Handlungen und Denkweisen der Mitarbeitenden, den Problemlösestrategien, der Technik etc.)
- Vernetzung (zur Gewährleistung von Marktkenntnissen und dem schnellen Erkennen von Markterschütterungen, aber auch zur Sicherstellung von Kooperationsmöglichkeiten, finanziellen Ressourcen, Fachkräften etc.)
- Experimentierfreude (2) (die sich vor allem kulturell ausdrückt, im Umgang mit Fehlern, der Offenheit für Neues, Beteiligung der Mitarbeitenden, Bereitstellung von Mitteln für kreative Prozesse, der Innovationslust etc.)
Macht eine Organisation nun die Erfahrung, dass sie nicht schnell oder umfassend genug auf Herausforderungen reagieren kann, dann sollte sie zunächst prüfen, wo zu viel oder zu wenig Gewicht liegt: Sind Flexibilität, Vernetzung oder Experimentierfreude unterentwickelt und müssen gestärkt werden? Oder ist der gegenüberliegende Quadrant vielleicht zu stark ausgeprägt? Die Kompetenz „Prüfen“ wird nämlich beeinflusst durch die Qualitäten
- Qualitätsstreben (3) (also der Wunsch nach Fehlerreduzierung, hoher Produktqualität, das Vorhandensein von Qualitätssicherungssystemen und allgemein die Bewegung hin zur Professionalität)
- Exzellenz (die für die Weisheit, die Erkenntnis des Unternehmens steht, seine Erfahrung, Dokumentation, auch Planungsfähigkeit als Summe der Erfahrung vorangegangener Planungsprozesse)
- Standardisierung (als die Fähigkeit der Organisation, Geld zu verdienen, durch Kostenoptimierung, Gewinnmaximierung, Skalierung)
Wenn vorhandene Qualitäten nicht zum Tragen kommen
Vielleicht sind also Flexibilität, Vernetzung und Experimentierfreude gar nicht schlecht ausgeprägt, können aber aufgrund eines überhöhten Qualitätsstrebens, einer Exzellenz, die in Dokumentationen erstarrt ist oder einer gnadenlosen Standardisierung nicht wirksam werden. In diesem Fall werden Initiativen in den Qualitäten Flexibilität, Vernetzung oder Experimentierfreude allein wenig bringen. Oder, um mit den Kompetenzbegriffen zu sprechen: die Organisation kann den Blick nicht antizipierend nach vorn richten, wenn sie zu sehr mit dem Prüfen des Gegenwärtigen und Vergangenen beschäftigt ist.
Zum Schluss noch ein Hinweis: das hier beschriebene Beispiel sollte nicht so missverstanden werden, dass die Balance zwischen zwei Polen allein ausreicht, um organisationale Resilienz zu sichern. Wer das glaubt, muss nur gedanklich zwei gegenüberliegende Pole auf unserer Halbkugel gleichmäßig beschweren. In Richtung der gewählten Achse ist das Modell dann zwar nach wie vor stabil, doch jede seitliche Belastung führt nun schneller zu Kippbewegungen als vorher. Auch hier bildet das Neoresilienz®-Modell also ein systemisches Prinzip in Organisationen ab: Veränderungen an einer Stelle ziehen Veränderungen an vielen anderen Stellen im System nach sich, und es ist nicht ratsam, ganze Gestaltungsfelder der Organisation – oder, auf das NEOresilienz®-Modell bezogen, ganze Kompetenzfelder – für längere Zeit unbeobachtet zu lassen.
Dies vorausgesetzt, bietet das NEOresilienz®-Modell gute Orientierungshilfen, um knappe Ressourcen im Rahmen von Veränderungsprozessen so einzusetzen, dass diese erfolgreich verlaufen und zugleich die Resilienz der Organisation nicht geschwächt, sondern im besten Fall gestärkt wird.
Wie immer freue ich mich über Fragen, Kritik und Diskussionsangebote.
Herzlich,
Mario Hüttges
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